22.
Jahne zog sich sorgfältig an. Wie für einen Termin zum Vorsprechen. Allerdings wußte sie selbst nicht, welche Rolle nun von ihr verlangt wurde. Die der guten Freundin? Dafür war es an sich zu spät. Die Rolle hatte sie Neil gegenüber viel zu lang vernachlässigt. Die Rolle der guten Fee? Doch Jahne taugte nicht dazu. Neil brauchte einen guten Psychiater und einen noch besseren Anwalt. Nichts sonst. Zumindest konnte sie Neil mit Geld aushelfen. Es sei denn, ihr Hilfsangebot kam schon zu spät.
Wahrscheinlich wird Neil nicht einmal ahnen, wer ich bin. Er wird mich ja nie als Mary Jane erkennen. Vielleicht will er mich nicht einmal sehen! Sie betrachtete sich im Spiegel ihres marmorgekachelten Badezimmers. Sie trug Jeans und einen weiten Pullover, den sie bei dem Kurzurlaub mit Sam in Nordkalifornien getragen hatte. Das Spiegelbild zeigte ihr eine schicke Frau, eine Frau, die bewundert wurde.
Auch das ist ein Vorteil des Ruhms, dachte Jahne, als sie den grüngefliesten Gang im Los Angeles County Gefängnis entlangging. Die Gefangenen durften nur von Verwandten und Anwälten besucht werden, auch wenn sich hier und da ein Reporter mit den entsprechenden Scheinen Zutritt verschaffte. Ein Filmstar besaß offenbar schon von vornherein Sonderrechte.
Jahne hatte sich als Freund in der Familie ausgegeben. Der Gefängnisaufseher hatte sie nur um Fotos mit Autogrammen gebeten, die sie in weiser Voraussicht mitgenommen hatte. Sie schenkte ihm auch zwei Karten für die Vorschau eines Films. Die Karten hatte sie vor einigen Tagen zugeschickt bekommen. Der Aufseher betrachtete Jahne genau. Sie ahnte, daß er nach Narben suchte. Eine stämmige Matrone filzte Jahne nach Waffen.
Jahne wurde in ein kleines Zimmer gebracht. Die Beleuchtung war grell. Ein zerkratzter Holztisch und vier alte Stühle möblierten den Raum. Neil saß mit dem Rücken zur Tür. Er trug einen orangefarbenen Trainingsanzug. Als er sich zu ihr umwandte, sah sie, daß sein Gesicht noch immer das Frettchenhafte hatte. Seine Augen wirkten verschleiert und lagen tief in den Höhlen.
Plötzlich stand er auf. »Veronica!« Er breitete die Arme aus. Seine Augen wurden feucht.
Jahne faßte es kaum. Wie schnell Neil sie erkannt hatte! Trotz der Operationen. Trotz der langen Zeit, die sie sich nicht gesehen hatten. Trotz der ungewohnten Umgebung. Gehörte das zum Geheimnis der Liebe? Neil hatte Mary Jane geliebt, und er liebte sie noch immer. Sie umarmte ihn und setzte sich neben ihn an den Tisch.
»Verzeih, daß ich erst jetzt komme. Ich hatte Mühe, dich zu finden. Dein Telefon ist nicht eingetragen, und ich...«
»Das macht nichts, Veronica«, sagte Neil freundlich. »Das nehme ich dir nicht übel. «
Er wirkte gelassen, wenn auch etwas gedrückt. Wie soll man sich mit einem alten Freund unterhalten, der einen Mord auf dem Gewissen hat? Sollte sie überhaupt auf das Thema zu sprechen kommen?
»Was ist eigentlich passiert?« fragte sie behutsam.
»Sie haben einen Fehler gemacht. Das ist alles falsch gelaufen.«
»Was willst du damit sagen?« Jahne dachte an die Filmaufnahmen seiner Tat. Wollte Neil jetzt wirklich das Unschuldslamm herauskehren?
»Ich hatte nicht Jughead sein sollen, sondern Archie. Der, den jeder liebt. Das war der Fehler. Aber das ist jetzt in Ordnung gebracht worden. Roger hat es in Ordnung gebracht. Es war nicht meine Schuld, daß das Mädchen erschossen wurde. Da hat jemand Mist gebaut. Dieser Johnny Burton. Der hätte gar nicht den Zeremonienmeister machen sollen, sondern ich. « Sein Blick wurde unruhig und flackerte irr.
»Das wird dir bestimmt vergeben werden«, flüsterte sie.
»Großartig!« brüllte er, den Kopf in den Nacken gelegt. Plötzlich veränderte sein Gesicht sich zu einer listigen Fratze. »Dann bekomme ich meine Show wieder, ja? Denn diese Sauerei verkrafte ich nicht mehr lang. Ich werde einfach nicht anerkannt und niemand respektiert mich. Das hält niemand auf Dauer aus. Ich bestimmt nicht.« Seine Stimme wurde noch lauter. Ganz übergangslos legte er den Kopf auf die Arme und weinte. »Du weißt ja gar nicht, wie das ist«, schluchzte er. »Im einen Moment fühlt man sich noch ganz dicht vor der Anerkennung, in der nächsten verliert man sie. Und dann ist alles plötzlich lieblos und kalt.«
»Doch, Neil, das verstehe ich gut.«
Sie strich sanft über seine Schulter. So saßen sie nebeneinander, während Neils Tränen flossen.
»Das tut mir so leid, Neil. Brauchst du etwas? Ich schicke dir, was du willst.«
»Ich brauche nichts.« Er hob den Kopf und wischte die Tränen ab.
»Was ist denn mit einem Anwalt? Ich könnte dir helfen...«
»Die Freundin meiner Schwester ist Anwältin. Diana. Außerdem ist ja auch noch Roger da. Der kümmert sich um alles.«
»Neil, ich möchte dir so gern helfen.«
Seine Miene veränderte sich dramatisch. Aus dem leeren, tränenfeuchten Lächeln wurde ein böses tierisches Grinsen. »Nicht Neil! Archie! Ich bin jetzt Archie. Bin richtig beliebt. Alle haben mich gern.«
»Gut, Archie«, versuchte sie, ihn zu besänftigen. Sein Ausbruch ängstigte sie. War er verrückt? Erkannte er sie überhaupt? »Wie behandelt man dich denn hier?«
»Ich bin der beliebteste Typ vom Riverdale High. Ich wurde schon zum Präsidenten der Seniorenklasse gewählt. Reggie ist gegen mich angetreten, aber ich habe gewonnen. Die Wahl fiel einstimmig aus. Am Ende hat sogar Reggie mir seine Stimme gegeben.«
Jahne versuchte, über den dünnen Witz zu lachen. »Archie, wenn du wüßtest, wie traurig ich bin, daß deine Show abgesetzt wurde und du...«
Neil sprang auf. Sein Stuhl fiel polternd zu Boden. Jahne wich erschrocken zurück. Die Tür ging auf. Ein großer, schwarzgekleideter Gefängnisaufseher trat ein. Neil sagte nur: »Hallo, Veronica!« Er breitete die Arme aus, und seine Augen standen erneut voll Tränen.
Jahne mußte all ihre schauspielerischen Fähigkeiten aufbieten, damit sie nicht in Schluchzen ausbrach. Sie hörte noch eine Weile das unverständliche Stammeln ihres Freundes, der fortgebracht wurde. Neil hatte Jahne nämlich nicht erkannt. Er wußte nicht einmal, welcher Tag der Woche es war, wußte nichts über die Waffe oder seinen Todesschuss. Offenbar hatte er sich angewöhnt, jeden Veronica zu nennen. Das jedenfalls berichtete der Aufseher, der sie zum Ausgang begleitete. Neil hatte sich in seinem ganz privaten Gefängnis aus Schmerz eingekapselt. Sooft er aus seinem paranoiden, verblendeten Nebel auftauchte, überfielen ihn Schmerz und Panik, und die ließen sich schwerer ertragen als seine Wahnvorstellungen. An Neils Beispiel erkannte Jahne, warum die Menschen mitunter im Wahnsinn Zuflucht finden.
Wie viele Jahre würde Neil hinter Gittern verbringen müssen? Jahne wurde es übel bei dem Gedanken. Mary Jane und Neil hatten viele Gemeinsamkeiten gehabt. Sie wurden beide ohne die entsprechenden äußerlichen Vorzüge geboren. Beide waren klug und sensibel genug, um darunter zu leiden. Sie hatten ihr ganzes Leben versucht, die körperlichen Unzulänglichkeiten zu kompensieren. Am Ende hatte Neil versagt. Und damit wurde er nicht fertig. Ein magerer, komischer Kerl mit dem Gesicht eines Frettchens, dem niemand zuhören wollte, der keine Freunde besaß. Ein Mörder. Jahne schauderte. »Ach Neil, wie konntest du nur?« flüsterte sie.
Doch hätte Jahne damals in Scuderstown nicht beinahe das gleiche gemacht? Gemordet? Sie würde nie die Zeit nach der Beerdigung ihrer Großmutter vergessen. Ihr Versagen und die fehlende Anerkennung hatten sie fast so nah an den Abgrund getrieben wie Neil. Nur hatte Neil seinen Zorn nach außen abreagiert, statt Hand an sich selbst zu legen.
Armer, mitleiderregender Neil, arme, mutterlose, ungeliebte Mary Jane...